Ein guter Mann erzählt Geschichten, nicht: es war, es ist, es muss so sein.
Über den Künstler Gregor Kunz


Gregor Kunz ist als sprachmächtiger und ganz und gar originaler Dichter in Erscheinung getreten, nicht zuletzt mit vielbeachteten Langgedichten hier in der sächsischen Literaturzeitschrift „Ostragehege". Weniger bekannt sind seine Bilder, die er aus Collagen und Fotomontagen zu einem Dritten verbindet.
Im Frühjahr 2015 war in Dresden eine größere Auswahl dieser Arbeiten zu sehen, in der Alten Feuerwache Loschwitz unter dem Titel „Nach Ithaka" und zusammengefasst in der Galerie Mitte mit dem Doppelnamen „Fremde Stimmen/Abendlandmaschine“. Ithaka verweist auf Homer und die Odyssee, die Fremden Stimmen auf Medeia, Iason und die Argonauten, die Abendlandmaschine auf den Krieg, der 1914 begann. Zu jedem dieser Zyklen gehören Texte, Gedichte und rhythmische Prosa, die in den Ausstellungen auch anwesend waren.

Also: Nach Ithaka! Eine sehr in die Zeitenferne gehende Kunstreise ist zu erwarten: scheinbar. Aber dieses Welt-Dechiffrieren im Bild, im Gedicht, so kryptisch es erscheinen kann, verbeißt sich bei diesem Künstler ganz ebenso ins Heute, steigt herab in die Wahne, in die politische Tollwut des letzten Säkulums, in die Schatten und wieder hinaus. Er kann sie nicht vergessen, die Väter und Mütter, in Kriege gerissen, die zermahlenen Knochen in den braunen Todesfabriken und roten Lagerhöllen, die infernalische Geschichte der blutigen „Abendland-Maschine“, die er immer mitdenkt, miterleidet.
Der Begriff des Fortschritts wird zweifelhaft, die Zeit ist ein Pfeil, der ins Unbekannte, ins Andere schießt, unumkehrbar. In der heutigen Kollaboration eines verantwortungsfernen „Werterelativismus“ gegen das Humane, und in der monströsen Egomanie einer reichen Dekadenz setzt sich, postmodern, das Elend der Geschichte fort: In neu aufbrechender Militanz, Kriegen weltweit und vor der Haustür. Die Leichen der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge werden an die Küsten des reichen Europa gespült und die Schickeria hetzt zur nächsten Party.

Ithaka, Insel im lonischen Meer an der Westküste Griechenlands, gilt als die Heimat des Odysseus. Nach der Zerstörung Trojas begann seine zehn Jahre währende Irrfahrt, deren Abenteuer Homer überliefert. Er entkam den menschenfressenden Ungeheuern und dem Vergessen, befragte die Seelen in der Unterwelt, verlor seine Gefährten und sich selbst, kehrte endlich, als Bettler verkleidet, zurück nach Ithaka, ein Niemand. Er tötete die Freier der Penelope, seiner Frau und Königin, und später, unerkannt, tötet ihn sein eigener Sohn Telegonos.
Von römischen Wandbildern über Rubens bis zu Picasso gehen die Bildvisionen der Mythen. Und die Weltliteratur und die Moderne setzen dieses grelle und hochfahrende, magische Leben in Verse ohne Zahl.
Kunz sagt: „Die Arbeiten folgen in respektvollen Abstand Homers Odyssee, näher in den Texten und naturgemäß in weiterem Abstand in den Bildern. So wie ich die Odyssee lese, umkreist sie u.a. die Frage, wie mit dem menschlichen Schicksal, dem Scheitern würdig umzugehen sei, wie mit Sinn zu leben ist und gegebenenfalls ohne. Entsprechend agieren in Bildern und Texten Masken, die des homerischen Personals und die des Autors, aufgestellt am möglichen Lebensgang einer Figur, die Odysseus heißt oder auch Niemand oder auch Ich. Bilder und Texte verhandeln Identitäten in menschlichen Grundsituationen, miteinander und gegeneinander und in einer Zeit, die immer auch Gegenwart ist."
Das trifft sein Schreiben und das trifft sein bildkünstlerisches Werk im Ganzen, sein visualisiertes Empfinden, die Gestaltformen: Aus den „Schachteln der Kindheit“ steigen die „Gespenster“, in den „informellen Farbräumen“ (sein Ausdruck ) gehen „Masken" um. Dabei, ich setze ein Wort des Virgil hinzu: haben „die Dinge Tränen“. Für Picasso waren Kunst und Poesie ohnehin eine „Emanation von Trauer und Schmerz". Antworten ist auch hier: sich der Herkunft erinnern.

Es kann nicht anders sein bei einem Mann wie Gregor Kunz, der es sich künstlerisch schwer macht, sich immer neu befragt, weltneugierig ist, ins Universelle denkt, liest, sinniert, studiert, ein Waldgänger ist, der schreibt und formt. Aber so wurde er ein solider Werkmeister und wandelbarer Stilist seiner Bilder.
Begonnen hat er als Zeichner, aber „Anfang der 80er Jahre hörte das plötzlich auf, diente der Stift nur noch zum Schreiben. Vor 15 Jahren waren die Bilder plötzlich wieder da, als Collagen diesmal, so selbstverständlich und zugleich heftig im Zugriff, dass sie wohl im selben Grund wurzeln..." Da war er um die 40 und verfügte über ein immenses lyrisches Werk!
So entstanden seit 2001 Groß-Zyklen, Collage-Bücher auf der Basis neu-montierter Reproduktionen alter Holzschnitte. Ein couragierter Verlag sollte endlich den Mut haben, diese wunderbar gearbeiteten, geistvollen Bilderzyklen zu edieren!
Die Suche nach einer farbigen Figurensprache führte dann zu der Technik, die er heute verwendet: Informelle Farbcollagen werden mit transparenten Fotomontagen konfrontiert und verbunden. Seit 2011 entstehen so große mehrteilige Arbeiten und Bilderzyklen, eng verbunden mit den eigenen Texten, mit den sehr alten Geschichten der Griechen und der neueren, der neuesten Geschichte des Abendlands.

Die Bilder von Gregor Kunz sind ein fast halluzinativ geformtes Zurückholen von sehr Altem in Gegenwart, ein Anverwandeln, Wiederherstellen; es ist gerade dieses unerwartete Rekonstruieren, Kombinieren, Neuformieren, was den Reiz, den Stil, den eigenen Rang seiner Arbeit ausmacht.
Seine sich zwingend fortschreibenden Formreihen, seine ambitionierte, Form-Phänomene suchende Ikonografie entfaltet in dichten, durchgearbeiteten, meist kleinen Formaten das ganze Glanz- und Elendspanorama seiner Themen. Die langen Titel, gleich einer Interaktion von Collage und Poesie, bilden eine subsidiäre Klammer. Etwa: „Ein guter Mann erzählt Geschichten, nicht: es war, es ist, es muss so sein“. Diese langen Bildtitel sind auch ein Erbe des Surrealisten Max Ernst oder von Klee, Kubin (dessen dunkle Zeichnungen er verehrt ).
lhre Formen sind, über die Themen weit hin, ein Echoraum der ewigen philosophischen Frage: „Warum existiert überhaupt etwas und vielmehr, nicht nichts?“, (Wittgenstein) oder Camus: „Was ist das Absurde? Es ist die Dichte, die Seltsamkeit der Welt...“
Dieses späte Echo ewiger Frage steht auch über jeder schwankenden Gegenwart. Und die eigentliche geschichtliche Zeit ist dem Leib des Einzelnen, dem immer einen lch des empfindenden Menschen eingeschrieben - schwankend und mörderisch, apokalyptisch.
Die „Renaissancen des griechischen Erbgutes“ (Albert Paris Gütersloh) nähren das jeweils lebendige, neue Vermögen zur Form, sie können helfen, gegen das Verwischen der Existenz im Formlosen oder im „Netz“. Dabei ist „Die Sprache des Künstlers (...) nicht, wie die Lehren der Moderne nur allzu oft behauptet haben, der gewaltsame, unmittelbare und idiotische Ausdruck des innersten Selbst ." (Jean Clair). Dem „Info-Dementen" (Botho Strauss) stehen Verständnis und begriffene Tradition, die Macht der archetypischen Quellen diametral entgegen, deren Inkarnationen eine Art „ewige Jugend“ (Arthur Koestler) inhärent ist. Kunz Zeugenschaft sucht Sinn, Heimat, Form und Stil.

Welchen „Gestaltenwandel“ betreiben nun diese Bildmontagen? Kunz kann alles Weg in die Dunkelheit, zur Helle, zum Sinn sein. Er verwendet alles Visuelle, Plakatreste von der Straße, historische Fotos und eigene Aufnahmen, Strukturen von Sand, Stein, Wasser und Himmel, das durchscheinende, unbekannte Chitinskelett am Meeresufer. Alles führt zum „Bild-Manöver“ der Montage, kann sich zu den „Argonauten“ oder zu „Ithaka“ oder in „Gagarins Wald“ erhellend verwandeln. Der „anorganischen Ziellosigkeit der Maschine“ steht die „Zaubermacht der Figur“ (Gütersloh) entgegen. Beides verzahnt sich, durchdringt sich, changiert, wird Ordnungsmuster, fremdartiges Ornament und entbindet sein visuelles Alphabet.
lch greife ein Blatt heraus: „Nach Ithaka: Nur wenig bleibt am Ende.“ Es ist eine sublime Miniatur. Schatten, gewiss der Vergangenheit, wehen über dem Acker, ziehen zum fernen Horizont, über dem die filigrane Palisade aufscheint, vielleicht ein dunkler Wald. Sie durchädern - weiter - schwarz und zuckend den Himmel; Flecken eines ausgewaschenen Rot, graublaue, weißwelke Farbquanten stürzen nieder, ordnen rhythmisch-abstrakt das Geviert. Das alles, alle Struktur, noch mehrmals mit feinsten Tonwerten überblendet, erzeugt eine Aura von Doppelbödigkeit, Ferne, Geheimnis und Gefahr. Ganz in der optischen Mitte der Montage entfaltet sich eine dunkle Fleck-Form zur Silhouette, und wir ahnen, es ist Penelope oder Kirke oder Odysseus oder sonst ein Schatten, zurückgelassen auf diesem Zeit-Acker. Von solcher Art sind diese sensiblen, genauen Montagen: ein über die Bildmittel erzeugtes Aus-Sprechen. Und es wird von vielem gesprochen, es sprechen die eigenen Konflikte, das Elend der Zeit, die bewussten, die unbewussten Archetypen scheinen auf, kommen wie „Phänomene vorausweisender Zeichen" (Bach) zur Sprache: als Zeiterosion, kosmischer Traum, in der irdischen Faktenhärte der Bilder.
Literarisch gespiegelt schreibt Gregor Kunz dazu in „Herakles: lch der Jahre“: „Ich ist ein Mörder, groß und ungeschlacht;/ ein hungriger Schatten, schlank und hungrig, die Jugend weicht nicht./ Hungrig, was sag ich, zwischen Willkür und Willkür, ein fressendes Loch;/ wer glaubte denn sonst, verdienter Mörder des Volkes, den Leuten am Telefon...“
So bricht die Gegenwart sich im Vers. Vers wie Bild decouvrieren, entlarven die schier endlose Litanei politisch-sozialer Illusionen. Eine sehr heutige Botschaft im stillen Blatt! Und über diesem Zivilisationsverhängnis steht das gänzlich Andere, eine unerklärliche Natur, ein Kosmos, der schweigt. „Wer bist du? Er hört sie gut, die fremden Worte sprechen: Medeia./ Wer bist du? Sie weiß, was sie wusste bis eben, hier in Aia, Aiaia, Ephyra,/ Medeia, die vertraute Worte spricht. Wer bist du? Sie sagt es und sagt es ihm nicht./ Hier in Korinth. Die Andere dem Anderen: Iason. Sollen sie reden. Soll reden, wer will.“ So steht es in „Fremde Stimmen, lason und Medeia“.
Oder in einem anderen Gedicht, „Kentauren“: „So sprach ich mit blutiger Zunge Flecken ins Blau, spreche/ von Vögeln, nur Wahres. Schmerz ist im Lachen, das Lachen in allem./ In Wahrheit, Gespenster, gibt es euch nicht. Aber ihr redet./ Und wenn ihr redet, gibt es nur euch.“

Man kann auf psychologische, psychoanalytische Traditionen bei Freud und Jung hier nur hinweisen - die Denkschulen des Traums und der Archetypen seien wenigstens genannt. Die „Triebenergie", die sich immer verjüngt, auch im Bild, kommt auch von daher. Kreativität und Maß sind ihr humanes Erscheinen. „Lustprinzip" und „Realitätsprinzip" können, im glücklichen Fall, in ein phänomenologisches Drittes führen, die Kunst. Dem französischen Ästhetiker Merleau-Ponty war dabei der Stil eines Künstlers „das Gestaltwerden von Elementen der Welt, die erlauben, diese nach einem ihrer wesentlichen Teile hin auszurichten.“ Stil ist ein „System von Äquivalenzen, (...) durch welche er ( der Künstler ) den in seiner Wahrnehmung noch verstreuten Sinn zusammenfasst und ihn ausdrücklich existieren lässt“.
Diese Fähigkeit zur Konzentration und zu originalem Schöpfertum besitzt Gregor Kunz. Wir haben, im sehr alten Mantel der Mythen, erschütternde Erkenntniszeichen des Jetzt in seinen Bildern vor uns. Diesem Rigorismus hält seltene Schönheit die Waage.

Hubertus Giebe März/November 2015


in: Ostra-Gehege, Heft 79

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