Gregor Kunz:

Versprochene Länder: Das neue Albertinum, Kontinuitäten, Brüche und Löcher







Das neue Albertinum ist das Alte: Im 16. Jahrhundert solide als Arsenal errichtet, umgebaut und aufgestockt in den 1880ern, 1945 abgebrannt und langsam wieder hergestellt, und jetzt, binnen sechs Jahren, noch einmal erweitert. Depot und Werkstätten sind aus dem hochwassergefährdeten Elbgrund gen Himmel gehoben worden und liegen als Dachgeschoss über dem Innenhof, von außen nicht sichtbar. Wenn Depots und Werkstätten im Haus sein müssen, ist die vom Berliner Architekten-Büro Staab realisierte Lösung ideal. Wäre der Umgang mit historischer Substanz und Stadtbildern überall und immer derart beschaffen, es bliebe nicht viel zu wünschen.
      Nächst der Lösung dieses Problems, hat der Umbau Platz gebracht, zusätzliche Ausstellungsflächen in einer frei gewordenen halben Etage und dann den Hof selbst, der jetzt eine große Halle ist. Außerdem hat er die Neukonzeption des Hauses, eine neue Aufstellung der Sammlungen – Skulpturensammlung und Galerie Neue Meister - sowohl ermöglicht als auch notwendig gemacht. Unter dem Gesamttitel „Das neue Albertinum. Kunst von der Romantik bis zur Gegenwart“ ist das Ergebnis seit Juni 2010 zu besichtigen. Das „neue“ im Titel meint das Bespielen des Hauses und ist Programm: „Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben sich das Ziel gesetzt, ein neu gestaltetes Museum der Gegenwartskunst zu eröffnen.“ (Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Staatsminister für Wissenschaft und Kunst im Dezember 1992).

Den Rundgang mit der Skulpturensammlung im Untergeschoss zu beginnen, bietet sich an. Klinger-Saal und Mosaik-Saal folgen auf der einen Seite des ersten Obergeschosses, auf der anderen liegt der große Bereich der Sonderausstellungen, im Wegeplan programmatisch als „Kunst der Gegenwart“ ausgewiesen. In den Schmalseiten dieses Vierecks sind zwei der drei Schaudepots der Skulpturensammlung untergebracht, Antiken aus Ägypten und Mesapothamien, Hellas und Rom, dann deren Folgen vom Barock bis in die Gegenwart. Im zweiten Obergeschoss siedelt die Galerie Neue Meister allein, ein Kern des Gehäuses, weit oben.
      Vordem, ob vom Georg-Treu-Platz her oder wie gehabt von der Brühlschen Terrasse, führt der Weg in den ehemaligen Hof, nunmehr „ein lichtes, vielseitig nutzbares, zentrales Foyer“, wie es vielsagend heißt. Hier ist die Kasse, und sonst, außer dem Buchladen und einem Kaffeeschank, nicht mehr viel. Drei Gestalten gibt es, patinierte Bronzen von Stella Hamberg, „Berserker“ (2007), die wohl Erdgeborene sind, Selbsterfinder. Wiewohl zweieinhalb Meter groß, sind sie klein, mit gut 14 Metern Platz über den Köpfen. Viel tun können sie nicht.
      Diese Leere um sie herum ist ein Ärgernis. Platz ist das, was den Sammlungen gefehlt hat und weiter fehlen wird, und Leere ist nie ihr Thema gewesen. So drängen sich neben dem Seiteneingang die Antiken im ersten Schaudepot, wohl unvermeidlich, und stehen die gestifteten Bronzen Wieland Försters hinter ihnen beieinander, als gäbe es wirklich keinen besseren Gebrauch von ihnen zu machen, als diesen. Im Hof würden sie ihr Kraftfeld entfalten können, wie 2005 im Kolbe-Museum Berlin.

Die Skulpturensammlung präsentiert unter „Von Rodin bis zur Gegenwart“ rund 120 Jahre in gedrängter Zeitfolge, zugänglich vom Ende her und vom Anfang. Sehr dicht steht der ältere Teil, raumgreifend die relative Gegenwart. Das Gedränge im Dickicht der Kunstarbeit hat etwas für sich; einige Stücke behaupten sich in ihrer Stärke glänzend und gewinnen noch dazu, was freilich zu Lasten anderer geht: Lehmbrucks „Kniende“ (1911) etwa, die noch in weiterer Entfernung der „Ruine“ von Scheibitz (2010) viel von ihrer Selbstverständlichkeit nimmt. Anderes wieder bekommt die Qualität eines Fundes im Wald, einer Wieder- oder überhaupt einer Entdeckung, Rodins „Victor Hugo“ (1896) zum Beispiel, Wilhelm Wauers „Herwarth Walden“ (1917), die „Daphne“ Cimiottis (1961) oder A.R.Pencks „Denkmal für das geteilte Deutschland“ (1986). Dessen fünf kleine Figuren teilen sich in eine Platte, sind als Gestalten lesbar und als Prinzipien und miteinander auch eine Zwangsgemeinschaft. Das Werk weiß mehr und anderes als der Künstler, so soll es sein.
      Die Gegenwart beginnt bereits im Bereich des späten 19. Jahrhundert mit der erwähnten „Ruine“, die etwas von einem Schlund hat, einem irregulär gezähntem Maul, Hai oder Neunauge. Das ist in mehrererlei Hinsicht stimmig, nicht nur, weil die 1890er den letzten zwei Jahrzehnten sehr ähnlich waren – wir kommen da her bzw. gehen da hin. Die Arbeit ist gut platziert.
      Am anderen Ende sprengen die neuesten, sehr platzintensiven Arbeiten das Gefüge: geordnet aufgestellte und zerstreut ausgelegte Zedernholzquader, eine Klang-Bild-Maschine und ein gigantischer Knoten aus Schiffstauen und Rettungsringen. Mit der prinzipiellen Offenheit auch der Kunstgeschichte lässt sich das begründen, aber es setzt auch über die schiere Größe eine Wertung und, nebenbei, auf den Ausschluss von anderem. (Ob der „Seelenfänger“ von Birgit Dieker mit Seelen etwas anzufangen weiß, steht dahin. Aber einen Aspekt der Gegenwart fasst sie gut: Wenn dieses eiförmige Zeitknäuel einmal aufgeht, möchte man nicht dabei sein, werden die Ringe und Taue nicht reichen.)

Klinger- und Mosaiksaal sind Räume des Übergangs. Hier treffen sich Skulpturen (auch farbig gefasst) und Malerei der Neuen Meister aus dem meist späteren 19. Jahrhundert in den verbliebenen Räumen ihrer ungefähren Zeit, bzw. in ihrem ungefähren Selbstverständnis. Es sind im Klingersaal der Namensgeber selbst mit Malerei und Plastik, dann Böcklin, von Stuck, Thoma, Klimt, Zwintscher, Kolbe, Hodler, Rodin, Slevogt, der merkwürdige Sascha Schneider. Ein sehr schöner Raum, und schön nah an der Abbruchkante... Niemand hat gewusst, was kommt, kaum einer, was ist; nur dass der Boden unter dieser noch halb ständischen, schon hochtechnisierten und immer militanteren Massengesellschaft in Bewegung war. Klingers „neue Salome“ freilich dürfte gewusst haben, Slevogts gepanzerter Mann zwischen den Frauen, die Hysterie in den Stilfiguren Schneiders, womöglich auch das Stückchen Abwehrzauber im manieristischen Schwachsinn eines Diez. „O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht“, so erfasste es Trakl.
      Der Mosaiksaal gibt in Gips und Marmor das kühlere, beherrschtere Vorfeld, Klassizismus als festes und befestigendes Muster, das gelegentlich Lücken lässt und blinde Stellen braucht. Tiecks „Humboldt“ (1805), ein sehr junger Punk ohne Blick, hat das alles an sich (und eine merkwürdige Verbindung zu den hilflosen Selbsthelfern Hambergs). Die Zeit Schadows und Rauchs, Tiecks und Thorwaldsens war eine Zeit enormer Desintegration im Sozialen, hungrig und unheimlich, schnapsgetränkt, zusammengehalten vom ebenso enormen Beharren althergebrachter Privilegstrukturen in Wirtschaft und Politik. Irgendwo dazwischen richtete sich das Bürgertum mitsamt seiner Kultur ein, hier überreichlich repräsentiert von Ernst Rietschel. (Verleugnet und/oder angenommen, wird uns diese Zeit bei den Neuen Meistern wieder begegnen, bei Blechen, den Nazarenern, Carus, Ludwig Richter, auch bei Gille; der Hut der Kunst ist wahrlich groß.)
      Rietschel war ein tüchtiger Kunstarbeiter, der mit seinem mittleren Talent gut zu wirtschaften verstand und in Dresden wohl zur rechten Zeit an den rechten Ort gelangt ist. Er machte, was dran war, die Dichterfürsten, den Reformator und auch einmal einen schon zu Lebzeiten versteinerten Monarchen. Was er anfing, machte er ordentlich, bis in die Nähte des Staatsrocks und den offenen Knopf der Weste; so seinen exemplarischen Lessing (1848/49). Alle diese Figuren waren Selbstbilder, Selbstbilder, zu denen die bürgerliche Gesellschaft aufschauen konnte, entlastet und ein bisschen gerührt.
      Das erklärt freilich nicht, warum Rietschel in dieser Breite vorgeführt wird. Zu lesen war, es ginge gegen sein Vergessen. Kann, wer so wenig ein Selbst gewesen, wirklich vergessen werden? Den Nutzen trägt am Ende eine Figurine davon, von Scheibitz aus rotem und blauem Plexiglas gebaut, schon weil sie derart unmotiviert auftaucht. (Rietschel steht in Schillings Denkmal auf der Brühlschen Terrasse, sein Sitzriese Friedrich August ist auch in der Nähe und Schilling darf den Fürstenzug beschließen. Interessanter ist doch: Rietschel lernte bei Rauch, Schilling bei Rietschel, Diez bei Schilling, bei dem wieder Barlach, was auch immer... Friedrich, Blechen und Gille starben mit vernutztem Hirn, was an ihrem ehrlichen Umgang mit dem Unbekannten gelegen haben kann. Rietschel erlag einem Lungenleiden. Aber gut, auch das ist vermutlich keine Wahl, die man hat.)

Die Sonderausstellung „Das versprochene Land“ versammelt noch bis zum 29. Mai 2011 Kunst der näheren Gegenwart. Sie reiht an die 60 Arbeiten teils bekannter Namen aneinander, Leihgaben als auch Sammlungsbestand. Vieles davon wirkt ähnlich, nicht von der Art, aber von der Haltung: dekorativ und manchmal witzig, wenig verbindlich und merkwürdig harmlos. Natürlich kann man sich mit den einzelnen Positionen über kurz oder lang gut unterhalten, auch länger beschäftigen, aber nur weniges zwingt dazu. Dieses wenige ragt entsprechend heraus: Katharina Sieverding mit „Deutschland wird deutscher“ (1992), Per Kirkebys angehaltene Zustände (1985), Eno Verkerk mit „Buster Keaton und Samuel Beckett“ (1992), auch Tilman Hornig. Der Höhepunkt und allein schon den Besuch lohnend, ist eine große Arbeit von Emil Schumacher, rechtens für sich gestellt: „Candido“ (1969 übrigens). Was „Candido“ meint, wird Schumacher vielleicht gewusst haben, was es ist, lässt sich sagen, für den Tag und die Stunde, den Augenblick. Vier große Bögen Papier sind auf Leinwand kaschiert, mit hellem, fast weißem Acryl überzogen (bedeckt, auch verheert, in dauernder Metamorphose), einen steilen schwarzen Bogen gibt es, von dem es trieft, durchschlagendes Blau, kaum sichtbar, ein kleines Dreieck… Geh da durch und wohne.
J      ust zu Schumacher findet sich im Katalog der Galerie Neue Meister (Band 1, S. 493) eine Bemerkung, die weniger Schumacher, als seine Umgebung erhellt: „Schumachers Malerei ist weniger theoretisch fundiert...“ Kunst hat m. E. auf dem Gebiet des Vorgewussten, im Vollzug ästhetischer (oder sonst wie begründeter) Theorien nur wenig verloren. Sie bewegt sich auf dem Gebiet der Entdeckungen, und, wie Jannis Ritsos einmal formuliert hat: „…lasst mich das große Wort aussprechen - auf dem Gebiet der Offenbarung“. Kunst ist wesentlich Praxis, eine Praxis, die den ganzen Menschen braucht (und sich an den ganzen Menschen wendet, an seine Augen, seine Magengrube, sein Hirn...). Kunst fügt der Welt Wesentliches hinzu, das anders nicht zu haben ist, sie ist Umgang mit dem Unbekannten. Theorien können nützen, zumal als Startplatz, und ohne Einfluss bleiben sie bei niemandem, aber als Fundament taugen sie nicht.

Die auf Dauer angelegte Ausstellung der Galerie Neue Meister folgt wieder einer ungefähren Chronologie, beginnt aber in der Gegenwart. Aus Prinzip wohl, und um Erwartungen gleich eingangs zu brechen. Was folgt, zerfällt in drei Teile. Erstens: 13 Räume mit gut 150 Jahren Kunstgeschichte, mehr oder minder personalisiert, mehr oder minder schlüssig und letztlich ein Teil des Traditionsbestandes der Galerie. Zweitens: Zwei Räume mit Andeutungen des Kunstgeschehens zwischen 1945 und 1989 in Ost und West. Drittens: Vier Räume mit den Personalausstellungen Penck, Baselitz und Richter (wobei Penck Gäste hat, also zwischen den Abschnitten zwei und drei rangiert). Im ersten Teil ist noch ein Gelass für Kabinettausstellungen eingeschoben, derzeit präsentiert es den Landschafter Carl Robert Kummer zum 200. Geburtstag.
      Ins Entree teilen sich dreizehn Künstler, Borowski, Giebe, Kerbach, Nitsche, Rauch u.a., wobei „teilen“ den Sachverhalt nicht trifft. Wohl sind die Arbeiten überwiegend aus dem weiten Bereich der Landschaft gewählt und stehen sich auch farblich öfter nahe, doch hindert das Gedränge ihre Entfaltung. Überdies ist ein kleines Format darunter gesteckt, Carl Blechens „Galgenberg bei Gewitterstimmung“ (1835). Eine gewisse spiegelnde Nähe des benachbarten „Nr. 89/06.“ von Peter Krauskopf gilt als Begründung. Nach Galerie-Direktor Ulrich Bischoff stehen beide Bilder „exemplarisch für das Konzept, nämlich als Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ Hätte man Blechen im zeitlichen Abstand belassen, oder beide Arbeiten separiert, fände dieser Dialog sicher statt. So aber, wie er hier angesetzt wird, bleibt er in schwarzer Museumspädagogik stecken.

Den eigentlichen Anfang setzt dann Caspar David Friedrich. Im kalten Licht der Gegenwart allerdings, was die Bilder vereinzelt und bannt. Es folgen die Dresdner Romantik mit Oehme, Carus, Dahl etc, eine längere Strecke Ludwig Richter, die Nazarener und Ferdinand von Rayski. In einer schmalen, dreigeteilten Nebenstrecke laufen Gille, Marées, Feuerbach, Leibl, Trübner, v. Uhde und Menzel nebenher.
      Mit Friedrich beginnt in der Tat die Moderne; nicht als Epoche, aber in ihrem Wirken in der Kunst und in einzelnen Künstlern. Wir sind damit nicht zu Ende, auch das ist wahr, auch wenn die Erscheinungen (die treibenden und transformierten Wünsche und Ängste) heftig auseinanderstreben. Friedrich: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“ Der Künstler soll und unterlasse… Hatten bis ins 18. Jahrhundert Hof und Kirche eine noch überschaubare Künstlerschaft versorgt, waren die Künstler jetzt auf sich und an ein letztlich anonymes Publikum verwiesen, den bürgerlichen Käufer. Ohne einen hohen Anspruch und das Leitseil eines Regelwerkes war das schwer auszuhalten, ohne Mahlzeiten auch nicht. Zwischen Nahrungssorge, Selbstsuggestion, Abwehr und existentiellen Begehren emanzipiert(e) sich die Moderne. Diese Basis wirkt sichtbar fort bis ins Gegenbild Rayski; was der Katalog zu Rayski sagt, stimmt mehr oder minder für alle – sie waren Außenseiter. Untergründig wirkt diese Basis auch heute und noch in der Hysterie eines marktgesteuerten Kunstbetriebs: Kunst geht nach Brot. Ein freier Künstler ist ein schwarzer Schimmel, nicht nur aus Gründen der Ökonomie.
      Letztlich laufen die Bildreihen hier zusammen: all diese Bildfindungen zwischen Selbstwahrnehmung, vorgezeigtem Weltbild und Selbststilisierung arbeiten an der Erfindung des Künstlers, an seiner Freisetzung. (Was sich bei den retro-religiösen Nazarenern ganz gut mit einer regelgläubigen Artistik vertrug. Gut, dass sie hier ausführlich hängen. Der Rezensent mag sie nicht, aber sie sind wichtig, so wie sie waren. Ob es derart viel Richter hätte sein müssen, ist eine andere Frage, auch Carus sieht in seiner Fülle blass aus. Gille hingegen! Noch ein Portrait Rayskis wäre gut, was ein Hase ist, weiß ich. Die restituierten „Grenadiere im Schnee“ sind freilich nicht zu ersetzen.)

Gauguin und van Gogh, Monet und Manet, Renoir, Degas und Liebermann: so setzt es sich fort in Glut und Asche, im Wind der Engel. Die Brücke-Leute – „Und an den Küsten, hört man, steigt die Flut“ (van Hoddis) – haben ihr Rondell, gefasst von Slevogts Pulsen und Corinths bösem Blick, und dann erst, mit dem Krieg, setzt das 20. Jahrhundert wirklich ein. Dieser Krieg erfasst alles, wie danach auch „Der Krieg“ von Dix nach allem greift. „Ich wollte die Dinge zeigen, wie sie wirklich sind…“: Niemand seiner Generation hat den Krieg verlassen können, zumal der Frieden Bürgerkrieg war, Wirtschaftskrieg, Vorkrieg. Es angehen, es wirklich machen, transzendieren oder verklären, ins Niedliche/Heroische ziehen, groß war die Wahl nicht. Dix’ Hohn war auch Verzweiflung, er kam nicht daran vorbei. Auch Lohses Masken sagen unter anderem das, sein „Ludwig Renn“ ist Farbe und Krieg, Arbeit an derselben Sinnfrage, die Renn umtrieb: Wir haben das nur vergessen. Kokoschka streitet mit Dix, bzw. seine Bilder tun es, ihr Ja ist hier auch Nein. Die Lohse-Strecke ist gut, ein Gewinn.
      Der folgende Raum bringt wichtige Leute und gute Arbeiten als Potpourri – Picasso, Kretzschmar, Modersohn-Becker, Hofer, Klee - seine Benennung mit „Klassische Moderne“ ist Verlegenheit. Die klassische Moderne beginnt hier im Hause bei Gauguin und ist auch bei WOLS noch da, arbeitet bei Giebe wie Göschel, bei Strawalde und Penck. Vor und nach diesem Raum klafft es, öffnen sich Riesenlöcher, bricht ab, was weiter gehen müsste. Diese Löcher schlucken Grundig und Querner, Lachnit und Jüchser, Felixmüller usw. in der sächsischen Moderne: nicht nur meine Liste ist lang. Grundigs „Das tausendjährige Reich“ wie sein späteres „Den Opfern des Faschismus“, Lachnits „Der Tod von Dresden“ sind Kernstücke der Sammlung. Diese Antworten auf die Sinnfragen des 20. Jahrhunderts – die anders nicht zu haben waren und sind – mögen gerade nicht passen, ins verbreitete Nicht-Wissen-Wollen der Zeit oder ins Weg-Da! des gegenwärtigen Kunstbetriebs; sie fortzulassen aber heißt: sie unterschlagen. Hier tut es weh. (Noch bis zum 7. November 2010, hängt „Das tausendjährige Reich“ in der Selbstfeier der Staatlichen Kunstsammlungen „Zukunft seit 1560“ im Residenzschloss, auch ein Lachnit, das „Mädchen im Pelz“… Über den Rang der Künstler scheint es also keinen Streit zu geben!)

Entsprechend unvermittelt geht der Sprung in die Künste zwischen 1945 und 1989 in Ost und West, einen faserigen Abschnitt lang, der nur knirschend funktioniert oder gar nicht, dem Krampf bedenklich nahe. Nach welchen Prinzipien auch immer zusammengestellt – gegenständlich und nichtgegenständlich etwa – die Arbeiten hängen in der Luft und rempeln sich gelegentlich heftig. Göschel erfreut, die „Augenweide“ zumal, ein sehr junger Giebe, ein gescheiter Graf, Glöckner… Warum die Arbeiten Göschels nicht beieinander bleiben durften, ist freilich ein Rätsel. Natürlich fehlt Tübke mit seinem „Bildnis eines sizilianischen Großgrundbesitzers“ und seinen (?) Marionetten, fehlt Heisig und überhaupt eine ganze Menge. (Mir. Anderen fehlt anderes. Genau hier liegt das Problem.) Der Abschnitt ist verdammt kurz und kommt im Grunde auch erst bei Penck zu sich, wo sich Entwicklung und Bezüge bündeln und die Arbeiten miteinander mehr hergeben als nur eine Summe. Dieser Raum ist gelungen und die Aufnahme Strawaldes ein feiner Zug.

Danach wird es sehr heikel, was nicht an den gezeigten Künstlern liegt. Es folgen Baselitz mit einem Raum und Gerhard Richter mit zweien, einem eigens fürs Haus geschaffenen Auftritt und mit einer Retrospektive. Dann brechen die Neuen Meister jäh ab, steht der Besucher mitsamt der Kunstgeschichte im Treppenhaus… Gut möglich, dass das Entree als ausbalancierende Fortsetzung gedacht ist, aber es funktioniert nicht.       Über die Notwendigkeit von Einzelpräsentationen kann man streiten und im Übrigen zu diesen herausgehobenen Künstlern stehen, wie man will; der wunde Punkt ist: Geht es an, die Präsentation einer Sammlung dieses Ranges in ihrer Breite wie in ihren Spitzenwerken zu reduzieren um Einzelner willen? Geht es an, dem Publikum wichtige Teile der Sammlung vorzuenthalten und damit die Möglichkeit eigener Wahl? Ans Ende einer ungefähren Chronologie gesetzt, bekommt das Herausheben überdies etwas Absolutes.
      Häuser dieser Größe und Tradition arbeiten am Kanon. Mit dieser Möglichkeit, diesem Privileg gehen Verpflichtungen einher. Die Neuen Meister sind keine Verfügungsmasse, sie gehören nicht ihren zeitweiligen Verwaltern, sondern allen. So sollten sie auch behandelt werden, dienend, ihrer Zugänglichkeit unter anderem, ihrem Erhalt, natürlich auch ihrem Ausbau. Reichen wird der Platz nie und ausgewählt werden muss, aber so wie sich das „neue Albertinum“ derzeit präsentiert, enteignet es einen Teil des Publikums.

Soweit der Stand im September 2010: Programmgemäß ist im „neuen Albertinum“ der Schwerpunkt in Richtung Gegenwart verschoben worden, durch den großen Raum der Sonderausstellungen/Kunst der Gegenwart als auch im Aufbau der Sammlungen. Was noch gefunden werden muss, ist ein angemessenes Verhältnis zwischen älterer und neuerer Kunst, temporär und auf Dauer, ein neues Gleichgewicht, das den Sammlungen, ihrer Geschichte wie der Kunstgeschichte, das allen Kunstfreunden ihr Recht gibt. Viel wäre mit einer besseren Ausnutzung des Platzes gewonnen. Stellwände etwa könnten die Ausstellungsfläche deutlich vergrößern und Fehlendes aufnehmen, die hiesigen Impressionisten um Sterl und Kuehl, die Malerei der 20er und 30er Jahre v.a., auch mehr von der Kunst zwischen 1945 und 1989. Desgleichen sollten Treppenhäuser, der Hof und die Foyers weit mehr genutzt werden. Vornehme Leere muss man sich leisten können. Wenn der Platz für Veranstaltungen und Empfänge dadurch kleiner wird, was hat Vorrang? Ob das reicht, wird man dann sehen. Her mit der Kunst – jetzt!

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